Patrick Chamoiseau, Martinique
Wie Anatole-Anatole ein Dorlis wurde
Als Anatole-Anatole größer wurde, begann er, seinen Vater Phosphore
auf dessen Rundgängen über den Acker jenseits allen Schicksals zu
begleiten. Dabei ahmte er seinen Schritt nach, wackelte mit dem Kopf
nach links und nach rechts. Manchmal erlaubte ihm seine Mutter Ninon,
eine Nacht beim Vater im Friedhofswärterhäuschen zu schlafen. Auf
diesem Riff des Lebens, umspült vom Meer der Toten, lauschte das Kind
dem lebhaften Treiben in den Gruften. Die Erdhügel und Grabplatten
bebten von Liebes- und Reueseufzern. Wenn der Junge sich darüber
wunderte, blickte ihn sein Vater mit den Augen des toten Mondes an
und murmelte, bevor er wieder in sein Schweigen zurücksank: "Ach
Kleiner, was du nicht weißt, das ist viel größer als du."
Anatole-Anatole zog den Friedhof der Schulbank vor. Er verbrachte
seine Zeit lieber damit, dem Vater beim Schaufeln zu helfen, in
mondlosen Nächten die Leichendiebe und andere Verfluchte zu
vertreiben, als Lesen und Schreiben zu lernen. Schließlich zog er
ganz zu ihm, dessen Kräfte mit zunehmendem Alter nachließen, und
versorgte einen guten Teil der Unterhaltung des Friedhofs. Ihr
Handwerk schnitt die beiden von der Außenwelt ab. Manchmal verließen
sie ihre Gräber, um im Dorf einen Punsch zu trinken. Dann leerte sich
nicht nur der Gehsteig, auf dem sie daherkamen, sondern auch das
unglückliche Bistrot, sobal ihre Schatten über die Türschwelle
fielen. Sie tranken immer allein und amüsierten sich mit heimlichem
Stolz über die Angst, die sie überall verbreiteten. Cécène, der Wirt,
leierte unterdessen am anderen Ende der Theke die passenden Gebete
herunter, um nicht von den Totenmännern angesteckt zu werden. Wenn
sie gegen Mittag gingen, zerbrach er feierlich die Gläser, woraus sie
getrunken hatten, bevor das Lokal sich neu mit Gästen füllt, und
streute über die Scherben den Staub von der dreizehnten Kirchenbank.
So verging das Leben von Phosphore und Anatole-Anatole. Ninon war
unterdessen den Verführungskünsten eines indischen Besenhändlers aus
Basse-Point erlegen und hatte ihre Sachen gepackt. Sie verließ die
Gegend, ohne noch einen Blick auf den Friedhof zu werfen.Sie werde
das Leben von einer anderen Seite anpacken, erklärte sie.
An einem Sonntag, als Phosphore und sein Sohn am Grab einem
Kind zuhörten, das aus Angst, erwachsen zu werden, gestorben war,
erhielten sie die Nachricht vom Ableben des Félix Soleil. Es hieß, er
habe von einer zehnten Tochter geträumt, die ihm seine verstorbene
Frau Fanotte noch im Jenseits geboren habe; diesen neuerlichen Segen
habe er nicht mehr verkraftet, und deshalb benötigte er jetzt eine
Gruft für das Fünf-Uhr Begräbnis. Der Herr Pfarrer hatte es schon
angekündigt. Wie gewohnt, besprachen Vater und Sohn, wo sie den
Neuankömmling unterbringen könnten.
"Am besten, wir begraben ihn an der Friedhofsmauer, Papa. Er
war doch Maurer, da wird er sie uns von Zeit zu Zeit reparieren
können." "Gar nicht dumm, Kleiner. Aber wäre es nicht besser, wie
legten ihn neben Fanotte, seine Frau?"
"Ach, die hatte ich völlig vergessen."
Sie gruben den halben Friedhof um, ohne eine Spur von ihr zu
finden. Als der Trauerzug eintraf, war die Grube an der Mauer
ausgehoben und der Grabstein aus Beton aufgestellt, den die Tochter
Héloise für ihren Vater am selben Morgen bestellt hatte. Während
Anatole-Anatole das hintere Sargende schulterte, fiel sein Blick auf
sie. Obwohl er ihr schon öfter begegnet war, hatte er sich nie von
ihr angezogen gefühlt. An diesem Tag aber, als sie in Tränen
aufgelöst vor ihm stand, schien sie nicht mehr aus Fleisch und Blut
zu sein, sondern zu den lebenden Toten zu gehören. Weil
Anatole-Anatole ständig die Grenze zum Jenseits entlangwanderte, wo
die Seele ins Wanken gerät, liebte er alles, was Tod und Leben
verbindet. Héloise gehörte beiden Welten an, und das betörte ihn. Er
ließ seinen Vater am offenen Grab zurück und folgte ihr.
Héloise trennte sich bald von ihren Schwestern und schlug
allein den Weg zu ihrer Hütte ein. Sie wurde von kaltem Entsetzen
gepackt, als sie den Nachtmann, den Bewohner des Friedhofs hinter
sich bemerkte. Und ihr Entsetzen wurde jedes Mal größer, wenn sie
sich umblickte, denn Anatole-Anatole kam ständig näher. Als sie die
letzten Häuser des Dorfes hinter sich gelassen hatte, stürmte sie die
heiße Landstraße hinunter. Anatole-Anatole ließ ich nicht aus dem
Schritt bringen.
Fieberhaft verbarrikadierte sich Héloise in ihrer Hütte. Ihr
Herz schlug dermaßen, daß sie sich setzen musste. Dann spähte sie
durch die heruntergelassenen Jalousien nach draußen. Die Straße zog
sich in weichen Kurven bis zu einer Anhöhe, wo sie aufzuhören schien.
Genau an dieser Stelle tauchte jetzt die friedliche Gestalt ihrers
Verfolgers auf. Sein Anblick raubte ihr fast die Sinne. Sie schlug
mit den Fäusten gegen ihre Schläfen und kauerte sich zitternd in eine
Zimmerecke. Von dort aus hörte sie, wie die Schritte von
Anatole-Anatole vor ihrer Tür endeten."Was willst du, verfluchter
Kerl!" kreischte sie. "Scher dich zum Teufel, sonst bespritz ich dich
mit Weihwasser!"
Anatole-Anatole ging. Als sein Vater ihn wie ein vom Wind
zerfetztes Bananenblatt vor sich sah, wusste er gleich, daß die Liebe
zum ersten Mal zugeschlagen hatte. "Sie hat dich einen verfluchten
Teufel genannt?" fragte Phosphore teilnahmsvoll. "Und sie hat dir
nicht die Tür aufgemacht? Macht nichts, Kleiner. Wenn es um Liebe
geht, weiß ich das richtige Mittel. Ich werde dir etwas beibringen."
In jener Nacht lag Héloise in ihrem letzten jungfräulichen
Schlaf. Der Neger Phosphore hatte seinen liebeskranken Sohn nämlich
mit einer dem Grab abgelauschten Methode in einen Dorlis verwandelt.
Man verliert sich in Vermutungen, ob er die Methode der im Bett
versteckten Kröte angewandt hat, die Methode der Ameise durchs
Schlüsselloch oder das dreimal Vor- und dreimal Zurückspringen, was
einen bekanntlich befähigt, durch Wände zu gehen. Auf jeden Fall
steht fest, daß sich Anatole-Anatole an dem besagten Abend, trotz der
verbarrikadierten Zugänge, in Héloises Zimmer befand. Mit seinen
neuen Kenntnissen als Dorlis drang er in sie ein, ohne daß sie
erwachte, und verbrachte acht köstliche Stunden auf ihrem schlafenden
Körper. Sein Grunzen und Weinen, sein Zittern und seine Lustschauer
verschmolzen mit dem leichten Schnarchen seiner Partnerin. Beim
ersten Vogelschrei fühlte sie sich zerquetscht wie Fallobst. Als sie
die Blutflecken auf dem Bettuch entdeckt und die Im Schlaf unerfüllt
gebliebene Lust im Leib verspürte, wusste sie, daß der Totenmann sie
geschändet hatte. Sie weichte sich den ganzen Tag mit dem Rosenkranz
in einer Wanne mit Wasser ein. Am Abend zog sie sich eine schwarze
Unterhose verkehrt herum an, weil das als Schutz vor einem Dorlis
empfohlen wird. Anatole-Anatole wurde glatt gestoppt, als er sich von
neuem über sie werfen wollte. Der Dorlis heulte in ohnmächtiger Wut
über diesen Gegenzauber, dem er nicht gewachsen war. Er verließ die
Hütte, um seinen Vater um Rat zu fragen, aber der konnte auch nicht
helfen. In Héloises Zimmer zurückgekehrt, drehte er sich, unglücklich
wie eine Krabbe ohne Versteck, ständig im Kreise herum, bis ihm der
anbrechende Tag jene schallende Ohrfeige verpasste, die alle
bekommen, die mit dem Teufel im Bunde stehen und sich vom
Morgengrauen überraschen lassen. Von diesem Tag an hatte
Anatole-Anatole eine Gesichtshälte so weiß wie eine St.Antonius Kerze
und einen zur Hälfte kahlen Kopf. Sein grauenerregendes Antlitz
versteckte er fortan unter einem über beide Ohren gezogenen Strohhut.
Der Friedhof verließ er nur noch gegen Mitternacht, um unter den
schutzlos eingeschlafenen Frauen zu wüten.
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